Stilkunde VI: Konstruktivismus

Die Entstehung des Konstruktivismus im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ist eng mit der Suche nach einem neuen ästhetischen Ideal verbunden, das dem Geist von Modernität und technischem Fortschritt entsprach. In Rußland lieferte die Oktoberrevolution entscheidende Anstöße für die Entwicklung des Konstruktivismus. Vor dem Hintergrund kollossaler sozialer Veränderungen sahen vor allem linke Künster ihre unmittelbare Aufgabe nicht nur darin, sich aktiv am Aufbau der neuen kommunistischen Gesellschaft zu beteiligen. Es galt auch, bürgerliche Kulturformen zu eliminieren und statt ihrer eine neue proletarische Kultur zu etablieren, durch die Gesellschaft, Produktion und Lebensweise umgestaltet werden sollten.
Die 1918 ausgegebene Losung "Künstler in die Produktion" ließ eine Gruppe von Produktionskünstlern entstehen, aus der heraus sich das spätere sowjetische Design entwickeln sollte. Im Jahre 1921 schlossen sich A. Rodčenko, V. und G. Stenberg, V. Stepanova, A. Gan, K. Meduneckij und K. Ioganson zur Arbeitsgruppe der Konstruktivisten am INChUK (Institut für künstlerische Kultur) zusammen. Damit hatte sich der anfangs eng an die Gruppe der Produktionskünstler gebundene Kreis der Konstruktivisten organisatorisch verselbständigt. Im darauffolgenden Jahr erschienen das "Manifest des Konstruktivismus" (V. und G. Stenberg, K. Meduneckij) und A. Gans Buch "Konstruktivismus".Architektur, Industriedesign und Druckgraphik wurden am nachhaltigsten vom Konstruktivismus beeinflußt. Strenger Rationalismus, Verzicht auf dekorative Elemente und Betonung der Flächigkeit prägten die konstruktivistische Druckgraphik, vor allem Plakatkunst und Buchgestaltung. Die Zeichnung wurde extrem abstrahiert, auf einfachste geometrische Formen reduziert oder durch Photographien ersetzt, das Blatt als System von geometrischen Flächen konstruiert. Besondere Bedeutung gewann der Plakattext, dem jetzt neben der eigentlichen Mitteilungsfunktion eine substantiell konstruktive und ästhetische Funktion zukam. In der Verwendung von Grundelementen der Polygraphie (Schrifttypen, Pfeile, Frage- und Ausrufezeichen, Setzlinien) trat das Konstruierte, 'Gemachte' am Werk hervor. Die Spezifik der Graphik der 1920er Jahre bestand vor allem darin, daß jeder Buchstabe und jedes Wort nicht nur als sprachlich relevantes Zeichen anzusehen war, sondern auch als aktive, visuelle Form wahrgenommen werden sollte.
Das Werbeplakat war das erste Genre, in dem sich der konstruktivistische Stil breit entfalten konnte. Der im Zuge der Neuen Ökonomischen Politik wieder aufkeimende Konkurrenzkampf ließ nach 1923/24 erneut Werbung für Lebensmittel und Erzeugnisse aus Staatsbetrieben notwendig werden. A. Rodčenko und V. Majakovskij, die sich zur Künstlergemeinschaft der "Reklame-Konstrukteure" zusammengeschlossen hatten, entwarfen, ebenso wie V. Stepanova, A. Lavinskij, A. Levin u.a., zahlreiche konstruktivistische Reklameplakate. Konstruktivisten entwarfen für eine Reihe von Staatsbetrieben individuelle Reklamestile, so z.B. für Mossel'prom, Rezinotrest, Čaeupravlenie und Gosizdat.
Die Werbegraphik jener Zeit war aufs engste mit der Buchgestaltung verbunden; viele Plakatkünstler, allen voran A. Rodčenko, arbeiteten gleichzeitig an Illustrationen von Büchern und Zeitschriften. 1923 erschien Majakovskijs Poem "Darüber" mit Photomontagen von Rodčenko. Oft wurden auch Photographien im konstruktivistischen Reklameplakat verwendet, meist in Form von Applikationen. A. Rodčenko integrierte in seine Plakate Porträtphotos, die die Montagetechnik des späteren konstruktivistischen Filmplakats vorwegnahmen. Die Prinzipien der Photocollage fanden darüber hinaus nicht nur im Werbeplakat, sondern auch im politischen und Theaterplakat Anwendung.
Ab Mitte der 1920er Jahre entstanden die ersten konstruktivistischen Filmplakate, zu dessen bedeutendsten Künstlern wiederum die Brüder V. und G. Stenberg, N. Prusakov, A. Lavinskij, A. Naumov, S. Semenov-Menes und A. Bel'skij gehörten. Sie schöpften ihre Anregungen zum einen aus der Montagetheorie des sowjetischen Films, der seinerseits als Erscheinung des Konstruktivismus im Medium Film gelten kann, zum anderen griffen sie auf eigene experimentelle Kompositionen zurück, die unmittelbar nach der Revolution entwickelt worden waren.
Gegen Ende der 1920er entwickelten G. Klucis, S. Sen'kin, B. Elkin und N. Pinus das politische Photomontage-Plakat. Klucis hatte sich zuvor mit konstruktivistisch geprägter Buchgestaltung befaßt, jetzt fand er durch das Plakat zur monumentalen Form. 1931 gelang es ihm, die Photomontage als führende Ästhetik des politischen Plakats während der Propagandakampagnen zum Ersten Fünfjahrplan zu etablieren. In Leningrad war D. Bulanov der wichtigste Gestalter konstruktivistischer Plakate.
Nach der Durchsetzung des Sozialistischen Realismus verschwand das Photomontage-Plakat nahezu vollständig, ohne daß es die in ihm angelegten künstlerischen Potentiale hätte auschöpfen können. In der Folge wurde der Begriff "Konstruktivismus" (in negativer Bewertung) mit der Kunst der russischen Avantgarde und dem dominanten Stil der 1920er Jahre gleichgesetzt.