Kampf gegen den Alkoholismus im Plakat

Das Alkoholismusproblem zog sich als Thema durch die gesamte Geschichte des sowjetischen Plakates. Besondere Aktualität erlangte diese Thematik vor allem während der vom Staat bzw. von gesellschaftlichen Organisationen initiierten Anti-Alkoholismus-Kampagnen.
Die erste dieser Kampagnen wurde bereits unmittelbar nach dem Bürgerkrieg durchgeführt. Als Folge der Prohibition entstand ein Schwarzmarkt für selbstgebrannten Alkohol, wodurch der noch junge sowjetische Staat einen nicht unerheblichen finanziellen Schaden erlitt. An den staatlichen Gegenaktionen beteiligten sich viele Künstler, u.a. auch V. Majakovskij, der in seinem Agitationsgedicht "Weg mit dem Selbstgebrannten" Trunkenheit als politisches Übel brandmarkte, das von den 'Feinden der Sowjetmacht' bewußt gefördert würde. Einzelne Verse des Gedichtes dienten später wiederholt als Textvorlage für Anti-Alkoholismus-Kampagnen.
Die nächste größere Anti-Alkoholismus-Kampagne fand Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre statt. 1925 war zwar das Alkoholverbot abgeschafft worden, aber bereits 1926 erschien die Verordnung des ZK der VKP (b) "Über den Kampf gegen die Trunkenheit" und ein Dekret der sowjetischen Regierung über strengere Maßnahmen im Kampf gegen den Alkoholismus. 1928 wurde außerdem eine eigene Gesellschaft zum Kampf gegen Alkoholismus gegründet. Plakate waren ein äußerst wichtiger Bestandteil dieser großangelegten Kampagne. Auf ihnen wurde die Trunkenheit als "Überbleibsel des Kapitalismus" und als Ergebnis der "Ausschweifungen des NĖP-Milieus" geächtet.
Der Beseitigung des Alkoholismus wurde daher die gleiche Bedeutung beigemessen wie der antireligiösen Propaganda. Daneben erschienen Plakate, die einen an kulturellen Werten orientierten Lebenswandel als Gegenpol zum Alkoholkonsum propagierten. Das Plakat behandelte die Trunkenheit auch in alltäglichen Zusammenhängen. So ermahnte es Väter zur Nüchternheit und warnte vor den Folgen der Tunksucht für die Familie mit Texten wie "Denke daran, wenn du trinkst, hungert deine Familie". Auf diesen Plakaten wurde der Trinker als verwahrlostes oder sogar angsteinflößendes Wesen stigmatisiert. Die Frage nach sozialen Hintergründen für den in Rußland verbreiteten Alkoholismus stellte man nicht. Nur den "schädlichen Einfluß" der Religion hatte das Plakat als Grund für übermäßigen Alkoholkonsum ausgemacht (V. Kozlinskij, Weg mit den kirchlichen Feiertagen).
Die Plakate zum Fünfjahrplan stellten den Alkoholismus auch als Bremse des wirtschaftlichen Fortschritts dar. In der Folgezeit wurden hauptsächlich zwei Aspekte, der sozialpolitische und der moralisch-ethische, aufgegriffen. Ab den 1960er Jahren wurde auf vielen Plakaten zudem noch auf die gesundheitsschädigende Wirkung des Alkohols hingewiesen.
In den 1930er Jahren, als die offizielle Statistik einen gewissen Rückgang des Alkoholismus verzeichnete, sowie in den Kriegs- und Nachkriegsjahren, trat der Alkoholismus als Plakatthema in den Hintergrund. Erst 1961 erlangte es neue Aktualität, als im Zusammenhang mit dem neuen Parteiprogramm (XXII. Parteitag) ein "moralischer Kodex des Erbauers des Kommunismus" verabschiedet wurde, der das Idealbild eines Sowjetmenschen entwarf, dessen moralische Kriterien unvereinbar waren mit Alkoholmißbrauch. Plakate zu dieser Kampagne entwarfen vor allem das Moskauer Atelier "Agitplakat", der "Kämpferische Bleistift" aus Leningrad und der Verlag der staatlichen Gesundheitsbehörde Sanprosvetizdat.
Eine wichtige Funktion übernahm das Plakat schließlich im Zuge der letzten großen Anti-Alkoholismus-Kampagne, die zu Beginn der Perestrojka durchgeführt wurde ("Über die Maßnahmen zur Überwindung der Trunkenheit und des Alkoholismus", 1985). 1986 wurden im größten Ausstellungssaal Moskaus Anti-Alkoholismus-Plakate gezeigt und ein Jahr später ein landesweiter Plakat-Wettbewerb zum Thema "Nüchternheit - eine Norm sozialistischer Lebensweise" durchgeführt. Die meisten der ausgestellten Plakate zeigten ungeschminkt die sozialen Folgen von Alkoholsucht (V. Maer, Plakat gegen den Alkoholismus).