Plakat und Zweiter Weltkrieg: Verteidigung und Rückzug

Obwohl die sowjetische Gesellschaft Ende der 30er Jahren in steter Erwartung eines Krieges lebte, hatte der plötzliche Angriff der deutschen Truppen am 22. Juni 1941 eine auch psychologisch vernichtende Wirkung. Entmutigend war auch die militärische Entwicklung 1941/42, d.h. die Besetzung großer Teil der europäischen Sowjetunion, der Vorstoß bis zur Wolga und in den Kaukasus sowie der Angriff auf Moskau und die Blockade Leningrads.
Aufgrund der militärischen Mißerfolge und der Schwierigkeiten bei der Umstellung der Wirtschaft auf Kriegsproduktion durchlebte die Bevölkerung schwere Zeiten. Das Agitationsplakat mußte daher eine Reihe von Funktionen erfüllen: einerseits alle Kräfte der Armee mobilisieren, in gewissem Umfang über die Lage an der Front informieren, andererseits an die Wehrhaftigkeit der Bevölkerung appellieren und Siegeszuversicht vermitteln.
Die desolate Lage an der Front spiegelte sich in Thematik und Gestaltung der Plakate dieser ersten Kriegsphase wider. Vorherrschend waren Plakate mit einer ausgeprägt appellierenden Funktion, die die Bevölkerung auf die Verteidigung des Heimatlandes vorbereiten sollten. In den Plakaten dominierten verallgemeinernde und symbolhafte Darstellungen. Diese entstanden aus dem Bemühen der Plakatkünstler, eine möglichst breite Identifikationsbasis für die Rezipienten zu finden und das Gefühl zu vermitteln, Teil eines großen Ganzen in der Verteidigung der UdSSR zu sein. Charakteristisch für die Plakate dieser Periode waren zudem stark pathetische Ausdrucksformen.
Die Plakatmotive der ersten Kriegsphase wie die "Mutter-Heimat" von I. Toidze (Mutter Heimat ruft) und der "Landwehrmann" Koreckijs, der das ganze Volk symbolisieren sollte (Unsere Kräfte sind unzählbar), erlangten große Popularität. Die sowjetische Armee wurde - wie in den ROSTA-Fenstern - durch 'rote Silhouetten' der Soldaten verkörpert (Kukryniksy, Unerbitterlich zerschmettern; A. Kokorekin, Tod dem faschistischen Scheusal). Trotz dieser Tendenz zur Verallgemeinerung wurde die Individualität der Figuren weitgehend aufrechterhalten. Durch die Verwendung von Photographien als Materialgrundlage konnte der 'dokumentarische' Effekt in den Arbeiten von V. Koreckij, L. Lisickij und V. Serov noch erhöht werden. Figuren wurden oft in Nahaufnahme gezeigt, in Aktion und energiegeladenen Bewegungen. Dabei waren Attribute wie "Mut" und "Entschlossenheit" wichtige Eigenschaften.
Häufig wurden auch historische Motive und Figuren zitiert, vor allem russische Heerführer, die sich in der Vergangenheit durch große militärische Erfolge ausgezeichnet hatten. Diese historischen Analogien sollten den Ausgang des Kriegs prophetisch vorwegnehmen und damit die Siegesgewißheit steigern. Die Losung "Alles für die Front, alles für den Sieg!" bestimmte die Plakate für das Hinterland, die sich auf verschiedene spezifische Kriegsthemen (z.B. Verdunkelung, Sammlung von Altmetall oder Wachsamkeit) bezogen. Die angespannte Stimmung im Hinterland kommt besonders im Plakat "Schwatz nicht" von N. Vatolina zum Ausdruck, mit dem vor "allgegenwärtigen feindlichen Spionen" gewarnt wurde.
Nach dem Rückzug der Roten Armee waren viele sowjetische Bürger schutzlos ihrem Schicksal ausgeliefert. Sie gerieten in Gefangenschaft, wurden ermordet oder zur Zwangsarbeit deportiert. Hauptfiguren dieser Plakate waren daher vor allem alte Menschen, Frauen und Kinder, die um Hilfe riefen oder Rache forderten. Die eindrucksvollsten Plakate zu diesem Thema stammten von Graphikern, die sich erst mit Kiegsbeginn der Agitationskunst zugewandt hatten, wie F. Antonov und D. Šmarinov (Räche). Zu einem regelrechten Medienereignis wurde das Plakat V. Koreckijs "Kämpfer der Roten Armee, rette", das in großer Auflage und verschiedenen Formaten verlegt wurde.
Ein Darstellungsschema für den 'Faschismus' hatte sich bereits in den Vorkriegsjahren herausgebildet. Die symbolische Darstellung als "widerwärtiges Untier" oder als "Ungeheuer" in Form eines Hakenkreuzes findet sich daher in den Kriegsplakaten wieder. Im Verlauf des Krieges kamen noch weitere Bezeichnungen hinzu, der Feind war nicht mehr nur "Aggressor", sondern "Mörder" und "Verbrecher". Das 'blutbeschmierte Bajonett' ("Kämpfer der Roten Armee, rette!") und die 'Blutspur' wurden zu festen Attributen.
Charakteristisch für das sowjetische Plakat der frühen Kriegsjahre ist die Identifikation mit der eigenen Seite, wobei aus dieser Perspektive auch die Feindbilder definiert wurden, was zu einem relativ glaubwürdigen Gegnerkonzept führte. Im Gegensatz dazu wurde auf deutscher Seite das antisowjetische Feindbild mit abschreckender Wirkung favorisiert, bei dem der Gegner überdimensioniert und als Horrorvision erscheinen mußte.