Filmplakate der 20er Jahre

Der Kritiker D. Aranovič schrieb 1927: "Mit der Zeit werden wir das Filmplakat der letzten Jahre zu den hervorragenden Leistungen unserer bildenden Kunst, des ganzen kulturellen Lebens des ersten Jahrzehnts nach der Revolution zählen". {Аранович Д. 2 Стенберг 2 // Красная Нива, 1929, N. 40, С. 20} Seine Voraussage ist eingetroffen, das Filmplakat der 1920er zählt heute zu den bedeutendsten Beiträgen der sowjetischen bildenden Kunst.
Einen starken Impuls erhielt die Filmreklame durch die sowjetische Filmindustrie, durch Werke bedeutender Filmemacher wie S. Ėjzenštejn, V. Pudovkin, L. Kulešov, D. Vertov und A. Dovženko. Die neue Ästhetik des Montagefilms revolutionierte nicht nur den Film, sondern auch das Filmplakat, von dem nun ebenfalls innovative Gestaltungsformen erwartet wurden. Diese Ansprüche erfüllten vor allem Künstler der Avantgarde, allen voran die Brüder V. und G. Stenberg. Gemeinsam mit A. Rodčenko, A. Lavinskij, N. Prusakov, A. Naumov, A. Bel'skij, S. Semenov-Menes, I. Gerasimovič, G. Rykov und M. Dlugač revolutionierten sie das Filmplakat, das binnen kurzer Zeit zu einem Medium progressiver künstlerischer Ideen wurde.
Die Filmkunst der 1920er Jahre war vor allem der Montagetheorie Ejzenštejns verpflichtet. Auch im Filmplakat wurde daher die Montage zum wichtigsten formgebenden Faktor. Die Filmemacher demonstrierten den Plakatkünstlern eine Vielzahl kreativer Verfahren, etwa den kontrastierenden Wechsel räumlicher Ebenen und szenischer Sequenzen, Effekte einer Polyperspektivik, Großaufnahmen oder Verfremdungen der Proportionen. Wesentliche Grundlage der Plakatgestaltung blieben konstruktivistische Gestaltungsprinzipien.
Bei der Gestaltung des Bildraumes und dem Einsatz formbildender Verfahren profitierten die Plakatkünstler nicht unwesentlich von Erfahrungen aus eigenen avantgardistischen Experimenten. Die Gegenüberstellung von graphischen und photographischen Elementen, von Flächigkeit und Volumen sowie die Einbettung von Linien und anderen geometrischen Strukturformen beschleunigte Erneuerungstendenzen in der Plakatsprache. A. Rodčenko, A. Lavinskij und N. Prusakov führten dabei das Verfahren der Photomontage in das Filmplakat ein, während die Brüder Stenberg gezeichnete Photographie-Imitate bevorzugten.
Die Plakate wurden zu graphischen 'Übersetzungen' filmischer Ausdrucksformen, zu Interpretationen und Epigraphen der Filme. Arbeiten wie Rodčenkos Plakat zu "Kinoglaz" von D. Vertov, die Plakate zu Ėjzenštejns "Panzerkreuzer Potemkin" (V. und G. Stenberg, Ja. Ruklevkij), Bograds Plakat zu der "Mutter" von V. Pudovkin und das Werk der Brüder Stenberg zu "Arsenal" von A. Dovženko verliehen darüber hinaus den historisch-revolutionären Themen pathetische Wirkung und verstärkten auf diese Weise den politisch-propagandistischen Effekt dieser Werke. Besondere kreative Freiheiten nahmen sich die Künstler in der Reklame für sowjetische und ausländische Komödien, Alltagsdramen und Abenteuerfilme. Mit exzentrischen Plakaten und außergewöhnlichen Überraschungseffekten beeindruckten sie die Rezipienten.
Das Filmplakat spielte im künstlerischen Leben der 1920er Jahre eine wichtige Rolle. Schon 1925 und 1926 wurden in Moskau Filmplakat-Ausstellungen organisiert. Außerdem nahmen sowjetische Filmplakatkünstler an internationalen Ausstellungen in Paris (1925) und Monza/Mailand (1927) teil, auf denen die Arbeit der Brüder Stenberg, Ja. Ruklevskijs, I. Gerasimovičs und G. Ryčkovs durch Auszeichnungen internationale Anerkennung fand. Die nebenstehende Photographie zeigt (von links) V. Stenberg, G. Borisov, G. Stenberg, Ja. Ruklevskij, A. Naumov, I. Gerasimovič auf der 2. Ausstellung des Filmplakats in Moskau 1926.
Das Filmplakat setzte nicht nur die Linie konstruktivistischer Polygraphie fort, die Rodčenko, Majakovskij, Lisickij und andere begründet hatten. Es beeinflußte auch das politische Plakat und die Buchgestaltung, deren strenge Funktionalität es durch 'verspielte' Elemente und eine klare Farbgebung auflockerte.