Zeit und Raum im frühen Revolutionsplakat

Die Darstellung der 'Zeit' als Indikator für gesellschaftlichen und wirtschaftlich-industriellen Wandel, wie sie für das Plakat des Stalinschen Aufbaus der 1930er Jahre zu einem dominanten Thema und Motiv wird, existiert im nachrevolutionären Plakat nur am Rande. Der Beginn der neuen Zeit des Sozialismus wird in stärkerem Maße durch eine Raumgestaltung als durch eine direkte Thematisierung der Zeit vermittelt.
Durch zwei Bezüge ist 'Zeit' jedoch auch unmittelbar Thema und Ausgangspunkt für die Plakatgestaltung: zum einen ist es die 'ablaufende Zeit' des Kapitalismus (Viktor Deni, Die letzte Stunde), die auch den Anbruch einer weltgeschichtlich neuen Epoche markiert. Zum anderen wird 'Zeit' bzw. die seit der Oktoberrevolution vergangene Zeit auf den Plakaten zu Jubiläen und Jahrestagen thematisiert. Hier bezeichnet sie eine Periode, die seit der für Sowjetrußland maßgeblichen Stunde Null vergangen ist und weist über diesen Zeitraum nach, welche Veränderungen sich in der entsprechenden Spanne vollzogen haben. Als prognostische Zeit gibt es auch Vorausblicke, wie in dem Plakat von Ju. Bondi (Einhundertster Jahrestag), die die Unendlichkeit der angebrochenden Periode und ihre historische Endgültigkeit antizipieren.Im Gegensatz zum Plakat der späten 1920er und 1930er Jahre kannte das frühe sowjetische Plakat noch keine festgelegte Raumstruktur. Als zentrales Raumkonzept war die Darstellung der Welt in Form einer Weltkugel vorherrschend. Der proletarische Herrschaftsanspruch wurde oft in Form einer überdimensionierten Arbeiterfigur visualisiert. Dieser Typ der Raumgestaltung erstreckte sich auch auf satirische Darstellungen, wie z.B. in dem Plakat von V. Deni "Lenin säubert die Erde vom Unrat".
Neben dem Motiv der Erdkugel existierte ein häufig wiederkehrendes Kompositionsmuster, in dem die Raumstruktur in triadischer Weise angeordnet war und zur Verdeutlichung der Zeit bzw. der historischen Entwicklung eingesetzt wurde. Der durch das Plakat gestaltete Raum war dabei in eine Avant-Szene, eine Bühne und einen Hintergrund unterteilt: im Vordergrund, auf der sich in der Regel im unteren Bildbereich befindenden Avant-Szene, wurde die Vergangenheit symbolisch durch Objekte der vorrevolutionären Zeit benannt, im Zentralbereich (Bühne) war die Gegenwart angesiedelt, vertreten durch die Protagonisten der Jetzt-Zeit (Arbeiter, Bauer, Rotarmist), die in klassischer Tradition als Torwächter positioniert wurden. Im Hintergrund hingegen figurierten die Merkmale der neuen, zukünftigen Zeit: eine helle, sonnendurchflutete Landschaft, Demonstrationszüge, die die gewonnene Freiheit feierten, Fabriken mit rauchenden Schornsteinen als Symbole der industriellen Utopie.
Dieser Plakattyp wies hiermit das Chronotop des Tores auf, das zwei Merkmale der ideologischen Utopie abbildet: zum einen bezeichnen sie eine Raum-Zeit-Veränderung von der düsteren Vergangenheit in die 'lichte Zukunft', zum anderen symbolisiert das Tor die Raumgewinnung, die Eröffnung einer Lebensdimension und den Durchbruch zu einer neuen, vorher nicht existenten Welt des Glücks. Das Tor wird damit zum Sinnbild der Transzendenz, der Gewinnung einer neuen Seinsweise, die in Gestalt einer neu eröffneten Raumperspektive die utopische Idee repräsentiert. Apsits Plakat vom Oktober 1918 (Ein Jahr proletarischer Diktatur) kann hierfür stellvertretend genannt werden.