Sowjetische 'Menschenbilder' und ihre Entwicklung im Plakat (Überblick)

Das Bild des 'arbeitenden Menschen' wurde in den ersten sowjetischen Plakaten durchgehend als sozialer Typ und Funktionsträger in symbolhafter Verallgemeinerung angelegt und mußte zwingend die charakteristischen Merkmale und Attribute seiner sozialen Schicht- oder Klassenzugehörigkeit (Hammer, Sichel, Sense etc.) aufweisen. In der einzelnen Figur sollte der Betrachter sofort und zweifelsfrei einen Angehörigen seiner sozialen Schicht erkennen, denn nur so schien es gewährleistet, daß der vom Plakat ausgehende Appell vom Betrachter auch verstanden und internalisiert wurde.
V. Polonskij vermutete, daß die von namhaften Künstlern angefertigten weißgardistischen Plakate nur deshalb keinen oder wenig Erfolg hatten, weil die auf ihnen abgebildeten positiven Figuren Angehörige der bürgerlichen Gesellschaft waren und somit den Massen nicht als Identifikationsfolie dienen konnten. In dieser Hinsїcht charakteristisch waren die Arbeiter- und Bauernfigur auf dem Plakat von Apsit, das dem ersten Jahrestag der Revolution gewidmet ist. Die Figuren besaßen bereits alle Attribute, die später in zahlreichen Variationen in anderen Publikationen der Agitationsgraphik erscheinen werden.
Arbeiter, Bauer und Rotarmist wurden in den ersten Jahren nach der Revolution in der Regel noch ohne äußere Monumentalität dargestellt. Die Einbindung der Figuren in satirische Genres (z.B. in den ROSTA- und GPP-Fenstern) belegt, daß pathetische Untertöne zunächst die Ausnahme blieben.
Massive Veränderungen durchlief das Menschenbild in den frühen 30er Jahren. Besonders durch die Photomontage wurden die einzelnen Figuren zum einen konkretisiert und personalisiert (als Vorlage dienten reale Personen), zum anderen durch raffiniertes Arrangement in heroischen Posen und Gesten gezeigt. Überdimensionale Arbeitergestalten demonstrierten jetzt den Kult, der nicht nur um die Figur Stalins selbst, sondern auch um die neue Gruppe der Arbeiter- und Bauernheroen getrieben wurde. Die vielfältigen und oft schemenhaften Figuren der 20er Jahre wurden von den maßgeblichen ideologischen Institutionen scharf kritisiert und stark zurückgedrängt.
Personalisierung und Heroisierung sollten auch das im Plakat des Sozialistischen Realismus manifeste Menschenbild bestimmen. Bei der Darstellung der Protagonisten dominierten nun der Staffeleimalerei nachempfundene Gestaltungstechniken.
In den 30er Jahren wurde der "neue Mensch" der Sowjetunion nicht mehr nur als staatlicher oder beruflicher Funktionsträger präsentiert; mit der Rehabilitation 'privater' Werte und Lebensformen werden Frauen auch als Mütter und Sporttreibende, ja sogar als 'reine' Privatpersonen (Reklameplakat) positioniert. Ähnliches gilt auch für die Darstellung von Männerfiguren. Stets bleibt der Mensch jedoch eingeordnet in das ideologische Gesamtsystem, d.h. ein pflichtbewußter, politisch aktiver und kämpferischer Typ, den man für den Protagonisten der neuen herrschenden Klasse ausgab. Ein symptomatisches Beispiel hierfür ist das nebenstehende Plakat von M. Solov'ev "Solche Frauen gab es nicht" (Stalin).
In den Jahren des Zweiten Weltkriegs spiegelte das Plakat die neuen politischen und militärischen Gegebenheiten wider: Einerseits dominierte jetzt die Soldatenrolle, zum anderen zeigte die Propaganda den Sowjetmenschen nun auch als Leidtragenden. Die in den 30er Jahren oft oberflächlichen Zuschreibungen von Charaktereigenschaften (Entschlossenheit, Stolz, Überzeugtheit) nehmen jetzt plausiblere Züge an: Angesichts realer Gefahren propagierte das Plakat ein Menschenbild, das Mut und Tapferkeit, ebenso wie Leid und Trauer offen und glaubwürdig zum Ausdruck brachte. Demgegenüber setzte das Nachkriegsplakat die Traditionen der 30er Jahre unmittelbar fort, begleitet von einem gewissen Aufbauoptimismus, wie er z.B. in den Plakaten von Viktor Koreckij zum Ausdruck kommt.
Optimismus ist auch vom Ende der 50er bis in die 70er Jahre hinein die den Mainstream der Plakatkunst prägende Grundstimmung. Farbenfrohe Entwürfe, die einen neuen, in der Regel jungen Menschen als Kern der Nachkriegsgenerationen zeigen, weichen zunehmend wenig überzeugenden, inhaltlich wie graphisch flachen Menschendarstellungen in den 70er Jahren. Der Verlust an Überzeugungspotentialen in der Gesellschaft wird auch in einer nicht zu übersehenden Krise des im Plakat vermittelten Menschenbilds deutlich. Das Lachen und die mobilisierenden Gesten der Arbeiter auf späten Sowjetplakaten wirken fade, ihre Glaubwürdigkeit ins Gegenteil verkehrt.
Erst mit dem Perestrojka-Plakat sollte ein tatsächlich neues, jetzt allerdings kritisches 'Menschenbild' Eingang in das Plakat finden, wobei die traditionelle Rollenzuweisung nahezu aufgehoben wird. Randgruppen, Outsider und Leidtragende sind jetzt die neuen Protagonisten, die auf Plakaten den Zusammenbruch des Projekts Sowjetunion dokumentieren.
Menschen als Opfer einer sinnlosen und menschenverachtenden Staatsmacht werden zum dominanten Motiv der letzten Jahre. Dem ideologischen folgte der soziale Zusammenbruch, den auch das Plakat nicht ignorieren konnte. Erst jetzt werden Menschen wieder als Subjekte der Geschichte und Gesellschaft begriffen, als Subjekte allerdings, an denen die Spuren staatlicher und politischer Vereinnahmung in krasser Weise abzulesen sind.