Postsowjetische Entwicklungen im Plakat

Mit dem Zerfall der UdSSR und der Auflösung der Kommunistischen Partei verlor das Plakat seinen wichtigsten Auftraggeber, das Produktions- und Verteilungssystem wurde reduziert und grundlegend verändert.
Dennoch setzten viele hauptberufliche Plakatkünstler ihre Arbeit fort, oft auf eigene Initiative. Es entstanden in den Künstlerateliers sogenannte "Autoren-Plakate", die allerdings nur auf Ausstellungen gezeigt werden. Der Erfolg dieser Ausstellungen war durchaus ermutigend, auch wenn die Breitenwirkung mangels verlegter Plakatauflage erheblich eingeschränkt war. Das Autoren-Plakat reagierte auf nahezu alle wichtigen Ereignisse des letzten Jahrzehnts, u.a. auf den August-Putsch 1991 (I. Majstrovskij), den Beschuß des Weißen Hauses 1993 (A. Budaev), auf die Präsidentenwahlen 1996 (A. Rezaev), die Kriege in Tschetschenien, auf organisierte Kriminalität und Auftragsmorde, die Verrohung der Gesellschaft, den wirtschaftlichen Niedergang und die Verarmung der Bevölkerung.
Die Unsicherheit, wie es mit Rußland weitergehen sollte, führte zudem zu einer erneuten Auseinandersetzung mit der Vergangenheit des Landes. Dabei handelte es sich weniger um Plakate mit agitierender bzw. appellierender Funktion, als vielmehr um nachdenkliche Reflexionen zu aktuellen Ereignissen, wobei vorwiegend eine Perspektive des einfachen "Manns von der Straße" eingenommen wird. Zu diesen Werken gehören u.a. das Plakat über den inhumanen Charakter des Tschetschenienkrieges von A. Vaganov, "Wird uns die Erde leicht sein" von K. Zajnetdinov über den Zerfall der Sowjetunion, A. Čancevs Plakat "Die Macht" sowie M. Luk'janovs "Mann des Jahres".
Ein kleiner Kreis von engagierten Künstlern führt heute den kritischen Anspruch des Perestrojka-Plakates fort. Neben bekannten Graphikern wie V. Ostrovskij, K. Ivanov, M. Luk'janov, E. Cvik und A. Lozenko gehören auch Nachwuchskünstler (A. Vaganov, K. Zajnetdinov, A. Budaev, A. Kolosov) zu dieser Gruppe.
Viele Plakatkünstler beschränken sich jedoch nicht auf reine Atelierkunst und suchen nach Wegen, mit denen sie auch ein größeres Publikum erreichen können. So verwendeten die Künstler S. Bulkin und E. Micheeva u.a. Collagen aus verschiedenen Plakaten bei der Gestaltung von Ausstellungspavillons und reproduzierten Plakatmotive auf Gebrauchsgegenständen und T-Shirts.
Auch am Computer entstanden in den letzten Jahren kreative graphische Arbeiten. Dieser Methode der Plakatproduktion bedient sich u.a. der Künstler A. Budaev, der in postmoderner Manier in Werken der russischen und internationalen Kunst nach Analogien zu aktuellen politischen Ereignissen sucht. Durch die Montage von Photographien russischer Politiker verfremdet er bekannte Kunstwerke zu einer Art Plakat-Groteske, die vor allem über das Internet Verbreitung findet.
Unabhängig von Stilrichtungen und Schaffenstechniken verbindet alle Künstler der intensive Wunsch nach einem erneuten Kontakt des Mediums Plakat mit seinem Publikum, um so das Plakat wieder zu der "Kunst der Straße" werden zu lassen, die es seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts war.
Daneben besteht aber auch eine andere Tendenz, die ihren Ursprung in privaten Verlagshäusern (IMA-Press, Premier-SV, Linija Grafik etc.) nimmt. Diese Unternehmen produzierten Plakate zu den wichtigsten politischen Ereignissen, so z.B. zur Präsidentschaftswahl 1996, den Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs und zur 850-Jahr-Feier Moskaus. Zum 50. Jahrestag des Kriegsendes wurden beispielsweise Repliken von Plakaten der 1940er Jahre und aktuelle Plakate zu diesem Thema ausgestellt. Zur Wahlkampagne B. El'cins 1996 fertigte Bokser eine antithetische Plakatserie an, die eine starke Symbolwirkung entfaltete. Die Plakate wurden auch in verkleinerter Form als Ansichtskarten und Kalender herausgegeben.
Ständige Teilnehmer an internationalen Plakataktionen und -ausstellungen ("Wir und sie. Sie und wir", "Goldene Biene") sind V. Čajka, M. Gurovič und A. Logvin, die neben politischen Arbeiten auch Werbe-, Theater- und Ausstellungsplakate entwerfen. Viele dieser Werke Arbeiten sind jedoch aufgrund ihrer komplexen Bildstrukturen, ihrer Assoziationen und interpretationsbedürftigen Metaphern nur einem elitären Rezipientenkreis verständlich.
Noch existieren beide Tendenzen parallel. In welche Richtung sich das russische Plakat der nächsten Jahre entwickeln wird, ist daher schwer zu prognostizeren. Endscheidend wird sein, welche Bedeutung es für sein Publikum wieder zurückgewinnen kann. Als Teil künstlerischer Autorengraphik wird es sicherlich seine Rolle auch auf den Kunstmärkten der Welt finden. Die letzten Jahre haben aber auch gezeigt, daß es durchaus auch Trends zurück zu recht kitschigen, patriotisch angehauchten Plakatformen gibt. Das Plakat wird daher auch gegen das Diktat ästhetischer Infantilität ankämpfen müssen, das eine 'Amerikanisierung' der russischen Gesellschaft und Neo-Russophilie in das Geschäft mit der Werbung hineintragen.