Plakat und Perestrojka

Die Politik der Perestrojka fiel in eine Zeit, in der die Mehrheit der Sowjetbürger den Glauben an kommunistische Ideale bereits lange aufgegeben hatte. Darüber hinaus nahmen unter der Bevölkerung offene Unzufriedenheit mit der politischen Führung zu.
Die Forderungen der Perestrojka (Transparenz, Umgestaltung, Demokratisierung) riefen daher, vor allem bei kritisch eingestellten Intellektuellen, begeisterte Zustimmung hervor, wenn auch die Masse der Bevölkerung sich zunächst abwartend verhielt. Die Propagierung der Gorbačevschen Losungen nahm dennoch ungeahnte Ausmaße an. Als Reaktion auf die sich nach 1985 rasant entwickelnde politische Situation veränderten sich auch die Bedingungen der Plakatherstellung.
Zwar funktionierte das Plakat zwar nach wie vor als Instrument der Partei, deren führende Rolle es bei den sozialen und politischen Veränderungen postulierte. Neben diese traditionellen Momente traten jetzt jedoch auch Tendenzen in Erscheinung, die ein neue, aktive Rolle der Bevölkerung bei den politischen Veränderungen einforderten.
Mit Losungen wie "Die Perestrojka beginnt bei jedem einzelnen von uns" zielten die Plakatkünstler auf die persönliche Verantwortung des einzelnen Bürgers für die politische und gesellschaftliche Situation des Landes. Die Art und Weise, den Sowjetbürger als Masse oder Individuum auf Plakaten darzustellen, veränderte sich in dieser Zeit grundlegend (L. Tarasova, Kommunist zu sein; A. Vaganov, Sacharov).
Ins Zentrum des Plakats gerieten schnell reale Probleme, vor denen die Propaganda der letzten Jahre stets ausgewichen war: die Wechselbeziehungen von Individuum und Gesellschaft, Probleme der Erziehung und Ausbildung in Schule und Elternhaus, Altersarmut, Arbeitslosigkeit, der niedrige Lebensstandard, aber auch Kriminalität, Prostitution, Drogen, Alkoholismus und Aids. Weitere Themen stellten ökologische Probleme, das Überleben ethnischer Minderheiten und deren kulturelle Identität dar.
Bei all dem entstanden Plakate, die mit echter Satire politischen Zynismus anprangerten oder gesellschaftliche Mißstände in zuvor nicht gekannter Schonungslosigkeit offenlegten (I. Tarasov, Unser Konto 707; B. Dorogan', Der Staat sind auch wir; V. Kundyšev, Rettet den Aralsee).
Bald aber griff die kritische Umwertung auch auf historische Ereignisse und Figuren über. "Das Volk, das seine Vergangheit vergißt, ist verdammt, sie zu wiederholen" lautete die Losung eines Plakats von L. Kovaleva. Die Stalinsche Politik erschien im Lichte der Perestrojka als Kette grausamster Verbrechen, Denunziationen, Schauprozesse, Folterungen, Erschießungen. Entlastend wirkte hier allerdings die Eindeutigkeit der Schuld, die ausschließlich in der Figur Stalins und seiner engsten Umgebung, später dann auch Lenins gesucht wurde. Wie es letztlich zu diesen Verbrechen kommen konnte und inwieweit die Gesamtgesellschaft hieran eine Mitschuld hatte, ließ das Plakat, wie auch die kritische Publizistik, weitgehend aus. Von einer seriösen Vergangenheitsbewältigung im Plakat kann daher nur in Ansätzen gesprochen werden.
Thematisiert wurden nun aber auch Ereignisse der Gegenwart, wie z.B. der Krieg in Afghanistan (N. Červotkin, Ich bin zurückgekehrt, Mama), nationale Konflikte zwischen den Republiken sowie über das Auseinanderfallen der Sowjetunion.
Ein Charakteristikum der Perestrojka-Plakate war die Umwertung der ursprünglich positiven Bedeutung sowjetischer Symbolik in ihr Gegenteil. Vor allem betraf dies die Sichel, die nun als Mordinstrument blutbeschmiert gezeigt wurde (A. Vaganov, Kollektivierung 1929), die Lokomotive, die über Leichen fuhr, die zum Stahlskelett mutierte Statue des Denkmals 'Arbeiter und Kolchosbäuerin' von Muchina sowie zahlreiche Modifikationen von Hammer und Sichel.
1991 schwanden Aufbruchsstimmung und Euphorie aus den Plakaten, an ihre Stelle trat ein eher skeptischer Blick auf die ungelösten Konflikte und Probleme des Landes. Diese Situation markierte schließlich das Ende des Perestrojka-Plakates und mit diesem das Ende des sowjetischen Plakates.