Vom 'Tauwetter' zur Stagnation. Plakate der 60er bis fühen 80er Jahre

Das nach dem 20. Parteitag der KPdSU (1956) einsetzende politische "Tauwetter" veränderte die Atmosphäre in der gesamten sowjetischen Gesellschaft, so auch im Bereich der Plakatproduktion. Die Verurteilung des Personenkults Stalins wirkte sich negativ auf das Prestige der kommunistischen Partei und ihrer Ideologie bei den unteren Parteimitgliedern und in der Gesellschaft insgesamt aus. Die vormals als unerschütterlich angesehene Autorität der KPdSU hatte Risse bekommen, denn mit der Kritik am Personenkult mußte man auch zur Kenntnis nehmen, daß es in der Partei selbst zu Fehlentwicklungen kommen konnte, eine Erkenntnis, die dem orthodoxen Anspruch der Partei zuwiderlief.
Der Propaganda kam daher die Aufgabe zu, das angeschlagene Ansehen der Partei wiederherzustellen. Zwar blieben 'Partei' und 'Oktoberrevolution' die Hauptmotive, eine immer größere Rolle spielte nun aber wieder die Figur Lenins und vor allem die an ihn geknüpften "Leninschen Normen", die durch den Stalinkult verdrängt worden waren. Die bevorstehenden Jubiläen des 50. Jahrestages der Oktoberrevolution sowie des 100. Geburtstages Lenins verstärkten diese Entwicklung noch. Die Parteikongresse wurden durch aufwendige Kampagnen begleitet.
Während der Chruščev-Ära konzentrierte man sich auf aktuelle Sujets, die Raumfahrt, den "wissenschaftlich-technischen Fortschritt", die Neulandgewinnung, die Maisanpflanzung, den Umweltschutz sowie den Erhalt von Kunst- und Kulturdenkmälern. Die von Chruščev augegebene Vision, daß die "heutige Generation der Sowjetbürger im Kommunismus leben" werde, führte viele Plakatkünstler zur erneuten Beschäftigung mit dem Topos der "lichten Zukunft" sowie dem "Moralkodex des Erbauers des Kommunismus".
Die Dogmatik des Sozialistischen Realismus verlor allmählich ihre normative Kraft. Der soziale Aufschwung der 1960er Jahre und steigende Zukunftserwartungen lieferten einen entsprechenden Rahmen hierfür. Zudem veränderte sich die Funktion des Plakates, dessen (informative) Aufgabe mehr und mehr von anderen Massenkommunikationsmitteln (Fernsehen, Radio, Presse) übernommen wurde. Vor diesem Hintergrund waren die Künstler zur Innovation gezwungen, wollten sie den Stellenwert und die Notwendigkeit des Plakates in Konkurrenz zu anderen Medien überhaupt erhalten.
Diese Entwicklung vollzog sich auf mehreren Ebenen. Die wichtigste war eine Rückbesinnung auf Traditionen der sowjetischen Agitationskunst der 1920er/30er Jahre, auf die Arbeiten D. Moors, M. Čeremnychs und A. Dejnekas. Einige jüngere Plakatkünstler waren zudem noch von Čeremnych ausgebildet worden. Darüber hinaus kam es in dieser Zeit zu ersten Kontakten mit ausländischen Graphikern, wodurch man Gelegenheit erhielt, die Arbeitsweise tschechischer, polnischer, deutscher und anderer Künstler näher kennenzulernen. Die neue Ästhetik des sowjetischen Films hinterließ zudem ihre Spuren nicht nur im Filmplakat, sondern auch in anderen Plakatgenres. Produktionstechnische Verfahren wie der Offset-Druck erlaubten auch den Druck unkonventionell gestalteter Originale, so daß die Plakatkünstler angesichts gelockerter Zensurbestimmungen intensiv mit neuen Ausdrucksformen experimentieren konnten.
Das Streben nach ästhetischer Eigenständigkeit bestimmte den neuen Stil des Plakates, der sich in vielerlei Hinsicht von den künstlerischen Kriterien der vorangegangenen Zeit unterschied. Die schablonenhaften Darstellungen der sowjetischen 'Helden' im Stil des "photographischen Naturalismus" provozierte beispielsweise eine Gegenreaktion, die zu einer extrem reduktionistischen Darstellungsweise von Menschen bzw. zum generellen Verzicht auf Figuren führte. Die realistische Eindeutigkeit der Plakatsprache wurde durch Metaphern, Allegorien und Symbole verdrängt. Die Abkehr vom Sozialistischen Realismus führte dabei gelegentlich so weit, daß Plakate interpretationsbedürftig wurden, die eigentlichen politischen Intentionen nicht mehr klar zum Ausdruck kamen.
Die Chruščev-Periode war letztlich für eine nachhaltige Umsetzung vieler künstlerischer Ansätze zu kurz. Bereits Ende der 1960er Jahre breiteten sich in der sowjetischen Kultur, damit auch im Plakat, neue Restriktionen aus, die zu einem endgültigen Niedergang des politischen Plakats führen sollten. Zwar konnte das Film- und Theaterplakat hier eine Sonderposition behaupten und seine in den 1960er Jahren errungenen ästhetischen Freiräume verteidigen. Mit der Gründung des Spezialverlags "Plakat" (1974) unterstellte sich das Zentralkomitee der Partei jedoch wieder das politische Plakatwesen, was insgesamt zu einem über 10 Jahre andauernden Stillstand führte.