Stilkunde VII: Sozialistischer Realismus

Nach der Auflösung der Künstlervereinigungen 1932 wurde auf dem 1934 einberufenen Kongreß des sowjetischen Schriftstellerverbandes der Sozialistische Realismus zur einzig zulässigen Stilrichtung der sowjetischen Kunst erklärt. Das Plakat bildete dabei keine Ausnahme, wenn auch diese politisch motivierte und situationsabhängige Kunstart eine durchaus eigenständige Entwicklung durchlief, die sich mitunter von der anderer Schaffensbereiche unterschied.
Bereits Mitte der 20er Jahre waren avangardistische Plakatkünstler heftigen Angriffen ausgesetzt, darunter auch V. Majakovskij und A Rodčenko. Die marxistisch geprägte Kritik warf den "Reklame-Konstrukteuren" vor, einer "kleinbürgerlichen Weltanschauung" zuzuarbeiten ("Der 'Triumph der Materie' wird den Menschen ins Abseits drängen"). Die Theoretiker der Produktionskunst wiederum unterstellten den Avantgardekünstlern, sowohl im Dienst der Revolution als auch der NĖP zu stehen. Der Reklame, die verdächtigt wurde, stilistischen Anleihen aus dem Westen zu huldigen, wurde schließlich eine "ideologische Leitung" verordnet.
1930 verurteilte dann die Konferenz bei Sovkino in schärfster Weise die Arbeiten konstruktivistischer Plakatkünstler und wies diese an, nunmehr "politische Arbeit" im Kinobereich zu leisten. Im März 1931 wurde in der Resolution "Über die Plakatliteratur" des ZK der Partei eine "unerträglich verwahrloste" Situation im Plakatbereich moniert; diese Kritik zielte in erster Linie auf das politische Plakat. In den zahlreichen, auf die Resolution folgenden Publikationen fanden sich Thesen, in denen sich bereits das theoretische Fundament des Sozialistischen Realismus abzeichnete. Besonders aufschlußreich war hierbei die Diskussion über das Plakat, die am Institut für Literatur, Kunst und Sprache der Kommunistischen Akademie 1931/32 geführt wurde.
In seiner Eröffnungsrede postulierte I. Maca: "Die erste und grundlegende Forderung, die wir an das Plakat stellen müssen, ist eine politische, ideelle Sättigung; es muß einen Inhalt haben, der von unserer Wirklichkeit ausgeht und diese dialektisch-materialistisch behandelt. Das zweite ist die maximale Ausdruckskraft. (...) Das erfordert seinerseits, die Frage nach der schöpferischen Methode zu stellen." {Маца И. Вступительное слово // За большевистский плакат, Дискуссию и выступление в институте ЛиЯ. М.; Л., 1932. С. 17-18} Und weiter: "Gut ist diejenige schöpferische Methode, die die Schaffung von Kunstwerken garantiert, die klar, eindeutig, überzeugend und mit anschaulicher Sprache die breite Masse der Werktätigen für die Generallinie der Partei agitieren. (...) {Антонов. Выступление в прениях. // Маца И. Вступительное слово // За большевистский плакат..." Дискуссия и выступление в институте ЛиЯ. М.; Л., 1932. С. 72} Die einzige Methode der proletarischen Kunst ist diejenige Methode, die auf der Grundlage des dialektischen Materialismus basiert (...). Die Leninsche Definition des Parteilichkeitsprinzips in der Literatur kann und muß vollständig im Bereich der Kunst verbreitet werden". {Антонов. Выступление в прениях. // Маца И. Вступительное слово // За большевистский плакат..." Дискуссия и выступление в институте ЛиЯ. М.; Л., 1932. С. 72}
Die Auftritte der Diskussionsteilnehmer und die weiteren schriftlichen Beiträge spiegeln die Zuspitzung der damaligen Auseinandersetzung wider, eine Atmosphäre, in der wissenschaftliche Genauigkeit mit Profanität, das Bemühen um stringente Schlußfolgerungen mit höchst unsachlichen Äußerungen vermischt wurden. Kritisiert wurden "Schematismus" und "Formalismus" der Plakate der LEF sowie eine "Schönfärberei der Wirklichkeit", die aus der unzureichenden Akzentuierung des Klassenkampfes resultiere. Man fordert eine höhere "Verständlichkeit" der Plakate, ihre Anpassung an den Geschmack der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. So wurden beispielsweise Plakate für die ländliche Bevölkerung noch nach ästhetischen Prinzipien des Luboks gefertigt. Die Veränderung der Ziele von Agitation, die Akzentverschiebung von der kommunistischen Utopie zur sozialistischen Gegenwart veränderten auch die ästhetischen und künstlerischen Parameter, was besonders in der Sozialistisch-Realistischen Malerei seinen Niederschlag fand. "Parteilichkeit", "Volkstümlichkeit", "Ideenhaftigkeit" und "Glaube an die Zukunft" waren jetzt die ideologisch verordneten Leitwerte. Die "Widerspiegelung der Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung" wurde umgesetzt als emphatischer Triumpf des Erreichten und in der Darstellung einer vorgeblich glücklichen Gegenwart, die als endlose, feierliche Parade der Errungenschaften und Erfolge am Betrachter vorüberzog.
Welche Konsequenzen diese "Volkstümlichkeit" Ende der 1930er Jahre zeitigte, berichtete N. Vatolina: "1939 ertönten die Worte Moors: 'Schüttelt die schläfrige Trägheit ab! Beendet die verlogene Anbiederung an das Volk. Wir haben die Spezifik des Plakates vergessen, haben sie durch anschaulichen Naturalismus ersetzt. Auf der Jagd nach dem Realismus sind wir auf naturalistische Abwege gekommen und, was noch schlimmer ist, zur Illustrationshaftigkeit; die Zielgerichtetheit [des Plakats] ist blutleer geworden". {Слова Моора: "Мы забыли о специфике плаката, подменив изобразительность натурализмом", "в погоне за реализмом свернули на натуралистические пути и что хуже - на иллюстрационность, обескровили нацеленность. - Д. Моор. Стенограмма совещания в издатесльстве "Мистецово" 14 июня 1940 г. Киев. РГАХИ, 1988, оп. 1. сх 49, С. 130 - Д. С. Моор. Я - большевик. М., 1967, С. 212}
Und N. Vatolina weiter: "Diese Warnungen wurden allerdings erst laut, als im Plakat bereits fast ausschließlich überschwengliche Dithyramben erklangen und als von irgendwo her ein süßlich wirkender Held mit einem für alle Situationen geeigneten, dienstbeflissenen Lächeln auftauchte, als sich eine kraftlose Indifferenz in den Plakatredaktionen ausgebreitet hatte, in denen ein kaum hörbares Flüstern zu vernehmen war: 'der Direktor liebt glatte Gesichter'. Moor, Deni und Kejl' warnten besorgt davor, die Aufgaben der Plakatkunst einzuschränken, aber die Situation im Plakat wurde nicht besser, Themen und Plakatgestaltung verflachten zusehends, und die jungen Künstler trugen die Folgen dieser Periode wie eine Narbe auf ihrem noch unentwickelten Schaffen davon (...)".