Neue politische Ziele im Plakat Anfang der 30er Jahre

An die Stelle der "Weltrevolution" trat in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre die Idee vom "Aufbau des Sozialismus in einem Lande". Diese Wende in der politischen wie wirtschaftlichen Orientierung wurde von großen Widerständen in unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft, aber auch von erbitterten Auseinandersetzungen innerhalb der Partei und einem politisch unentschlossenen Kurs begleitet. Zwar konnte das Plakat nicht alle Aspekte dieser Entwicklung berücksichtigen, doch immerhin die wichtigsten Probleme wurden in der Agitations- und Propagandaarbeit der Plakatkünstler thematisiert.
Bereits die 1921 einsetzende Neue Ökonomische Politik (NĖP) implizierte eine erste Absage an die Idee der Weltrevolution. Die Ersetzung der Getreideablieferungspflicht durch Naturalsteuern, die Zulassung freien Handels, die Dezentralisierung der Leitung der Wirtschaftszweige, die Praxis einer Kosten-Verlust-Rechnung in den Staatsunternehmen, die Finanzreform und andere Maßnahmen der ersten Zeit wurden als 'Zugeständnisse an den Kapitalismus' verstanden. Daher wurden politisch-ideologische Rechtfertigungen durch umfassende Propaganda-Aktionen begleitet. Wenn auch zunächst noch Plakate aufgelegt wurden, die eine von den Bolschewiki offiziell weiterhin als langfristiges Ziel ihrer Politik verkündete Weltrevolution thematisierten, betonten gleichzeitig Agitations- und Propagandaorgane den Vorrang des neuen politischen Kurses. Hierzu leisteten vor allem die Künstler der Glavpolitprosvet-Fenster mit ihren Plakaten einen wichtigen Beitrag, allen voran V. Majakovskij, M. Čeremnych sowie I. Maljutin.
Die Idee vom "Sozialismus in einem Land" wurde 1925 von Stalin ausgerufen. Ihm zufolge existierten zwei Möglichkeiten der historischen Entwicklung: einerseits, so Stalin, bestehe die Möglichkeit, daß die UdSSR als Basis der proletarischen Revolution eine sozialistische Gesellschaft errichte und die "kapitalistischen Elemente" im Innern des Landes bekämpfe, andererseits bestehe aber auch die Gefahr, daß ausländische Kräfte aus Furcht vor dem Sozialismus das sowjetische Regime zu zersetzen versuchten. Mit der Beendigung der Neuen Ökonomischen Politik hoffte die sowjetische Führung, auch diese Gefahr abwenden zu können.
Vor einer Versammlung von Wirtschaftsvertretern hatte Stalin 1929 verkündet: „Wir sind hinter den fortgeschrittenen Ländern um 50 - 100 Jahre zurückgeblieben. Die Zurückbleibenden werden geschlagen. Wir wollen aber nicht die Geschlagenen sein. Wir müssen diesen Zeitraum in zehn Jahren einholen oder wir werden zerschlagen". Im April 1929 wurde das Aufbauprogramm als Erster Fünfjahrplan offiziell beschlossen, im Dezember gab man die Forderung aus, die Planziele bereits in vier Jahren zu erreichen. Sie sahen eine Steigerung der Industrieproduktion um 230 % vor, die Produktionsgüterindustrie sollte sogar um 264 % zunehmen.
Im Rahmen dieser neuen Politik der Verstaatlichung ging man gegen die Spuren der Neuen Ökonomischen Politik unter dem Deckmantel einer "Bekämpfung kapitalistischer Elemente" vor, womit auch das Thema des "inneren Feindes" (Kulaken, Profiteure der NĖP, Anhänger Trockijs, Bucharins und andere 'andersdenkende' Mitglieder der Parteielite) in den Blickpunkt von Propaganda und Agitation gerückt wurde. Gleichzeitig schürte man Gerüchte über die Gefahr eines bevorstehenden Kriegs oder einer ausländischen Intervention.
Vor diesem Hintergrund etablierte sich an der Wende der 1920er/30er Jahre der große propagandistische Themenkomplex Industrialisierung und Erfüllung des Fünfjahrplans. Obwohl sich das Plakat relativ spät in die Agitprop-Aktionen einschaltete, figurierte das Thema bereits in ersten Arbeiten zum 10. Jahrestag der Oktoberrevolution. Die Losung "Wir erbauen den Sozialismus" auf dem Plakat von Ju. Pimenov wurde zu einem Leitmotiv seiner Epoche.