Reklame in den 20er Jahren

1921 führte die sowjetische Regierung die Neue Ökonomische Politik (NĖP) ein. Die sich daraus ergebende Konkurrenzsituation zwischen staatlichen und privaten Unternehmen setzte eine dynamische Entwicklung der Werbebgraphik in Gang. Die sowjetische Reklame hatte dabei nicht nur kommerzielle, sondern auch politisch-agitatorische Aufgaben zu erfüllen, was neue visuelle Formen erforderte. Einen bedeutenden Beitrag hierzu leisteten u.a. zwei exponierte Vertreter der sowjetischen Kultur, V. Majakovskij und A. Rodčenko.
Majakovskijs graphisch-poetische Erfahrung, die er unmittelbar zuvor in seiner Arbeit an den ROSTA-Fenstern erworben hatte, verbunden mit den konstruktivistischen Verfahren Rodčenkos, bildete das Fundament für den Stil der "Reklame-Konstrukteure", wie sich die beiden Künstler nannten.
"Ganz Moskau war mit unseren Produkten dekoriert. Die Auftraggeber waren Mossel'prom, der Staatsverlag und der Gummitrust, das GUM und die Verwaltung für Tee", {Родченко А. Работа с Маяковским // В мире книг, 1973, N. 6, С. 64} erinnerte sich Rodčenko später. Die mit Texten von Majakovskij versehenen Plakate Rodčenkos, V. Stepanovas, A. Levins und A. Lavinskijs waren nach konstruktivistischen Gestaltungsprinzipien gestaltet: es dominierte eine klare und strenge Linienführung, bestimmt durch den Plakattext; die weiteren gestalterischen Mittel beschränkten sich auf wenige, gesättigte Farben, typographische Elemente (Blöcke, Linien, Ausrufe- und Fragezeichen) sowie Photographien.
Für das graphische Arrangement des Textes, Ausgangspunkt der Komposition, entwickelten die "Konstrukteure" besonders effektvolle Verfahren. Die wichtigsten Inhaltsmerkmale des Textes wurden durch Maßstabsveränderungen, Farben oder ungewöhnliche Anordnungen hervorgehoben, wobei der einzelne Buchstabe zum stilbildenden Element und damit zur Grundlage der Komposition wurde.
Der typographische Reduktionismus der konstruktivistischen Plakate konnte jedoch nicht durchgängig die emotionalen Anforderungen an eine moderne Werbung erfüllen. Daher erweiterten die Künstler das Gestaltungsspektrum durch Photographien, Photocollagen oder -montage.
Die ideologische Überfrachtung der Reklame der 1920er Jahre kommt besonders in den Plakaten für den Staatsverlag GIZ zum Ausdruck. Buchwerbung wurde hier zur Propaganda für Alphabetisierung und Bildung, den zwei grundlegenden Aspekten der Kulturrevolution. "Fort mit der Dummheit und der Gewaltherrschaft der Unwissenheit. Jedes beliebige Lehrbuch gibt es im Staatsverlag". Diese und ähnliche Verse aus der Feder Majakovskijs klangen wie politische Statements. Photographien von Personen, die sich vom Plakat direkt an den Betrachter wandten, verstärkten die Wirksamkeit solcher Losungen (A.Rodčenko: Bücher zu allen Wissensgebieten).
Der Konstruktivismus war die vorherrschende, jedoch nicht die einzige Richtung in der Werbung der 1920er Jahre. In Werbeplakaten wurden auch Verfahren aus der vorrevolutionären Zeit verwendet, die das Produkt oder mit diesem assoziierte Figuren in den Mittelpunkt stellten. Diese Gestaltungsart findet sich vor allem in den Plakaten für den Mossel'prom. Künstler wie M. Tarchov oder V. Bajuskin präsentierten im Plakat eine Vielzahl illusionistisch gezeichneter Waren, die nicht nur das Warensortiment zeigen, sondern auch die Überlegenheit der sowjetischen Firmen suggerieren sollten.
In Genreszenen wurden dabei Protagonisten und Symbole der neuen Gesellschaft verarbeitet. Die Vision einer industrialisierten Zukunft Rußlands spiegelte sich in Motiven wie Kränen, Autos, Lokomotiven oder Flugzeugen wider. Die Waren selbst erhielten neue, dem Zeitgeist entsprechende Namen wie "Industrialisierungsanleihe", "Bündnis" oder "Unsere Qualität".
Mit der schrittweisen Rücknahme der NĖP seit Mitte der 1920er Jahre verlor auch Werbung immer mehr an Bedeutung. So wurde schon 1925 auf der ersten Konferenz der "Linken Front der Künste", (LEF) vor allem die Reklametätigkeit der Konstruktivisten kritisiert. Majakovskij und Rodčenko wurde unterstellt, daß sie einer "kleinbürgerlichen Ideologie" ("Triumph des Dings") folgten und gleichzeitig "im Dienst der Revolution und der NĖP" stünden.
Viele Plakate verkamen zu reinen Ankündigungstexten, dekoriert mit pseudo-konstruktivistischen Elementen. Außerdem verstärkte sich im Reklameplakat eine bildliche Ausrichtung auf den beworbenen Gegenstand, die in der Reklame der 1930er Jahre ihre Fortsetzung fand.