'Neue Welt' gegen 'Alte Welt' - Antithetik des Plakats

Die revolutionäre Regierung setzte das Plakat nicht sofort als ideologische Waffe ein, obwohl es bereits im Vorfeld der Revolution entdeckt und erprobt worden war. Es ist kein einziges Plakat bekannt, das von den Bolschewiki unmittelbar in den Tagen der Oktoberrevolution herausgegeben worden wäre. Auch in den Monaten unmittelbar nach der Revolution entstanden praktisch keine Plakate. Die vom Verlag des Zentralen Exekutivkomitees 1918 gedruckten Plakate stellten eher Arbeiten im Lubok-Stil dar.
Der Bürgerkrieg, die sich formierende Weiße Bewegung, die ausländische Militärintervention sowie soziale und wirtschaftliche Katastrophen erforderten eine Konsolidierung, um die revolutionären Veränderungen zu stabilisieren bzw. nach außen zu verteidigen. In dieser Zeit wurde auch das Plakat von Partei und Staat erstmalig in großem Stil eingesetzt. Seine wichtigste Aufgabe bestand darin, aus der Perspektive der Revolution anschaulich und plausibel den Sinn der historischen Ereignisse zu erklären und möglichst viele Unentschlossene auf die eigene Seite zu ziehen. Das Plakat konstruierte in kürzester Zeit ein Feindbild, mit dem es auch die alte, vorrevolutionäre Welt bewertete; als Gegner der Revolution wurden Imperialismus und Kapitalismus sowie die Vertreter der herrschenden Klassen des gestürzten Regimes und die Interventionsmächte an den Pranger gestellt.
Die Antithetik der visuellen und textuellen Aussage gehörte zu den zentralen Verfahren, deren sich sowohl das frühe sowjetische Plakat als auch das Plakat der folgenden Jahrzente bediente. Die Plakatkomposition weist in der Regel eine Wahlsituation auf, in der sich der Rezipient 'richtig' (im Sinne der Sowjetmacht) entscheiden soll. Diese Wahl ist weitgehend zugespitzt, d.h. in ihr wird nicht differenzierend argumentiert, sondern mit den fundamentalen Oppositionspaaren wie 'Gut - Schlecht', 'Leben - Tod', 'Erfolg - Mißerfolg', 'Neu - Alt ' usw. operiert. Das antithetische Plakat sollte nicht nur eine neue, sowjetische Wert- und Lebensorientierung vermitteln; die Abgrenzung der eigenen Position, für die ausschließlich positive Werte reklamiert wurden, gegen die negative Position, die der alten vorrevolutionären oder kapitalistischen Welt zugewiesen wurde, diente vor allem auch zur Definition dessen, was man selbst war oder von sich behauptete.
Vor dem Hintergrund des Eigenen, ausschließlich Positiven mußte alles Andere, Fremde als feindlich, bedrohlich und konterrevolutionär wirken. Der bedeutende russische Philosoph N. Berdjaev bezeichnete diesen Bruch im Bewußtsein der bolschewistischen Ideologie, die auch und gerade in der Plakatkunst ihren Ausdruck findet, als 'manichäisches Bewußtsein', für das es nur 'Entweder - Oder' gab. Notwendige Zwischenstufen, die in der Regel für die reale historische Situation kennzeichnend sind, blieben eliminiert; wer nicht mit der 'eigenen', bolschewistischen Position und ihren Wertemustern übereinstimmte, wurde ausgegrenzt.
Damit hatte die Antithetik auch den Effekt einer Identitäts- und Standortbestimmung: sie begründete im sowjetischen Bewußtsein das Denken in Grobkategorien ("Wir" im Gegensatz zu den "Anderen", "bei uns" - "bei ihnen"). Die später Stalin zugeschriebene Zwei-Lager-Theorie, die die Welt ideologisch und politisch in das Lager der - im sowjetischen Sprachgebrauch - 'Kräfte des Friedens und des Sozialismus' und andererseits 'des Imperialismus und des Krieges' aufspalten sollte, existierte damit bereits seit den ersten Jahren nach der Revolution.