Plakatkunst und Oktoberrevolution

Die politische Situation nach der Revolution erforderte vom neu gegründeten Staat eine außerordentliche Mobilisierung aller Kräfte, sowohl um die neue Ordnung im ganzen Land durchzusetzen, die äußeren Gegner in Gestalt der Interventionsmächte abzuwehren und die konterrevolutionäre Bewegung im Inneren zu bekämpfen, als auch um die drängenden sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Probleme, die das vom Ersten Weltkrieg und anschließenden Bürgerkrieg heimgesuchte Land belasteten, anzugehen. Agitation und Propaganda als Mittel der neuen Politik wurden daher von der Partei zu den wichtigsten Aufgaben gezählt. Angesichts des hohen Analphabetentums in der russischen Bevölkerung - insbesondere auf dem Land - schien das Plakat ein effizientes Kommunikationsmittel zu sein, um die politischen Ideen und Konzepte der Partei unter das Volk zu bringen.
Vor der Revolution exisierte in Rußland der Beruf des Plakatkünstlers praktisch nicht. Unmittelbar nach der Revolution wurden die Plakatkünstler dagegen zur größten Gruppe unter allen künstlerischen Berufen. Die bedeutendsten unter ihnen, wie D. Moor, V. Deni, M. Čeremnych, N. Kočergin, N. Kogout, A. Strachov-Braslavskij, die Künstler der ROSTA-Fenster mit V. Majakovskij in Moskau und V. Lebedev in Petrograd an der Spitze, sind in die Geschichte der russischen Plakatkunst eingegegangen. Viele andere sollten in den Folgejahren hinzukommen. Dennoch sind auch viele Künstler - besonders aus den russischen Regionen - bis heute nahezu unbekannt geblieben.
Eines der wichtigsten Merkmale des sowjetischen politischen Plakats ist, daß es offen und weitgehend unverfälscht die Ideale seiner Zeit zum Ausdruck bringt. Dies zeigte sich vor allem darin, daß die Plakatkünstler in einer durch revolutionären Optimismus getragenen und durch die Ideale der Oktoberrevolution geprägten Grundhaltung die tagesaktuellen Probleme aufgriffen. Plakate wurden von Berufs- und Laienkünstlern geschaffen, die die Revolution für sich angenommen hatten und die Verbreitung der revolutionären Ideale auch als ihre eigene persönliche Aufgabe betrachteten.
Bei aller Vielfalt des Plakates, die vor allem durch das künstlerische und professionelle Niveau der Graphiker, durch nationale Traditionen, drucktechnische Möglichkeiten und den Entwicklungsstand der Polygraphie insgesamt bedingt war, entwickelte diese Art der Agitationsgraphik ihren unverkennbaren Stil und übte einen großen Einfluß auf andere Genres der bildenden Kunst aus. 1919 betonte der sowjetische Kunstwissenschaftler Sidorov, damals noch ein junger Kritiker, daß die Kunst zum Mittel der allgemeinen staatlichen Politik wird: 'Die Verwendung der Kunst zur sowjetischen Propaganda' so Sidorov, 'äußert sich besonders deutlich und nachhaltig in der Aufmerksamkeit, die unsere Regierung derjenigen Kunstrichtung widmet, die früher fast mit Verachtung behandelt wurde. Ich meine damit das Plakat'.
Nach der Oktoberrevolution, in der das Plakat nicht in Erscheinung trat, wurde es als relativ junge Graphikgattung zu einem direkten Instrument staatlicher Politik und ideologischer Einflußnahme. Die neuen politischen Aufgaben evozierten neue thematische, stilistische und kompositionelle Strukturen, das russische Plakat erlebte gleichsam eine zweite Geburt.
Andererseits jedoch unterbrach die Revolution auch die kontinuierliche Entwicklung dieses Genres, so daß an den Bruchstellen dieses Wandels insbesondere die neuen Funktionsmechanismen und Strukturprinzipien sichtbar werden.

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