Stilkunde des vorrevolutionären Plakats (Übersicht)

Das beginnende 20. Jahrhundert stand stilistisch ganz im Zeichen des 'neuen' Stils. Diese Stilrichtung besaß internationalen Charakter, hatte aber in jedem Land seine eigene Ausprägung. Unter der Bezeichnung 'Jugendstil', 'Art Nouveau' oder 'Sezession' ist er in die Kunstgeschichte Europas eingegangen. In Rußland wurde er unter dem Namen 'Moderner Stil' zur dominierenden Richtung in Architektur, Graphik und Design. Jede nationale Schule, auch die russische, hatte selbstverständlich ihre Besonderheiten. In Rußland wies der Jugendstil drei künstlerische Tendenzen auf (Neorussische Stilformen, Jugendstilformen nach westeuropäischem Vorbild und die genuine Richtung des 'Mir iskusstva').
Zunächst muß man zwei Aspekte des 'modernen Stils' betonen, die in unmittelbarer Beziehung zur Plakatkunst stehen. Erstens ist dies sein - im weitesten Sinne - demokratischer Charakter, seine Ausrichtung auf die ganze Gesellschaft sowie sein Anspruch, alle menschlichen Daseinsformen künstlerisch zu gestalten und umzuformen. Dies ließ die Aufmerksamkeit der Künstler auf Bereiche kreativer Tätigkeit richten, die sie früher eher vernachlässigt hatten, u.a. nämlich auf die graphische Gestaltung von Büchern und Zeitschriften, Etiketten, Einladungs- und Ansichtskarten und selbstverständlich auf das Plakat.
Zweitens dominierte im 'modernen Stil' das Prinzip des 'Ensembles', das zum grundlegenden Element künstlerischen Schaffens in der Architektur, der Buchillustration, dem Produktdesign und der Plakatkunst wurde. So werden z.B. Bücher nicht nur äußerlich im Jugendstil gestaltet, illustriert und die Typographie des Textes entsprechend ausgesucht, auch die Werbung für das Buch, ja das Design der Geschäfte und Auslagen folgte den Regeln des Jugendstils. Die Idee eines produkt-, raum- und situationsübergreifenden Gesamtdesign breitete sich aus. Das Plakat wurde zu einem aktiven Bestandteil dieser 'Ensembles' und spielte in ihnen eine nicht zu unterschätzende Rolle: es warb für Bücher, Zeitungen und Zeitschriften, informierte über künstlerische Ausstellungen und Konzertveranstaltungen, rief zum Sammeln von Spenden auf. Auf diese Weise wird der Tätigkeitsbereich der Plakatkünstler stetig erweitert.
Die stilistische Vielfalt dieser Jahre beschränkt sich nicht nur auf den 'modernen Stil'. Die satirische Graphik aus der Zeit der russischen Revolution 1905, die in legalen und illegalen Zeitschriften und Ansichtskarten herausgegeben wurde, zeigte ihre Wirkung im politischen Kampf. Durch die Zensur zwar verboten, legte sie dennoch die Grundlage für die Agitationskunst der kommenden Jahrzehnte. Die Plakatkunst zeigte darüber hinaus auch Einflüsse realistischer Kunst und des russischen Luboks, einer Form volkstümlicher Bildgeschichten mit satirischen, oft in Reimen abgefaßten Texten, die besonders während der Zeit des Ersten Weltkriegs, als sich die Leserzahl wesentlich vermehrte, populär waren.
Stilrichtungen der aufkommenden Avantgarde wie der Kubofuturismus, der Lutschismus oder Suprematismus, die nach 1914 verstärkt von sich reden machten, besaßen für die vorrevolutionäre Plakatkunst nur eine untergeordnete Bedeutung. Es ist deshalb auch kein Zufall, daß V. Majakowskij und K. Malevič während der Kriegsjahre Lubokbilder malten. Im Plakat der vorrevolutionären Jahre spielt die russische Avantgarde nahezu keine Rolle.