1930. Die Rote Armee in den 20er und 30er Jahren

Der den Sachzwängen des Bürgerkriegs geschuldeten Trotzkijschen Konzeption eines stehenden Heeres mit stark hierarchischen Strukturen unter erheblicher Beteiligung ehemaliger Offiziere der zaristischen Armee stand das ursprünglich von Lenin entworfene Konzept einer Arbeitermiliz mit basisdemokratischen Leitungsmechanismen gegenüber, das noch bis in die frühen 20er Jahre von linken Kreisen innerhalb der Partei diskutiert wurde.
Massiver Widerstand gegen die militärpolitischen Positionen wie auch die Person des Kriegskommissars Trotzkij wurde ebenfalls aus den Reihen der durch den Sieg im Bürgerkrieg in ihrem Selbstbewußtsein bestärkten "Roten Kommandeure" (Frunze, Vorošilov, Budennyj, Tuchačevskij, Gusev) laut. Ihnen schwebte eine Armee revolutionären Zuschnitts mit internationalem Aktionsradius zur Unterstützung der Weltrevolution vor, die sich ausschließlich aus Arbeitern und quasiproletarischen Schichten der Landbevölkerung rekrutieren sollte.
Sich selbst als Stütze des revolutionären Systems in der Armee begreifend, wandten sie sich in aller Schärfe gegen die noch aus den Tagen der Februarrevolution stammende Institution der politischen Kommissare, die über die ideologische Loyalität der Offiziere zu wachen hatten und somit eine Doppelspitze in der militärischen Hierarchie etablierten. Die militärpolitischen Debatten wurden jedoch nach Beendigung des Bürgerkriegs durch die von wirtschaftlichen und finanziellen Nöten diktierte Realpolitik abgekürzt. Die Armee wurde von 4,4 Mio. Mann im März 1921 auf 560.000 Mann Ende 1923 reduziert.
Faktisch bildete sich so eine Mischform aus einer regulären Armee und einer ad hoc mobilisierbaren Territorialreserve heraus, der 3/4 aller Dienstpflichtigen nach einer zweimonatigen militärischen Ausbildung angehörten. Die Auseinandersetzung zwischen Trotzkij und den "Roten Kommandeuren" sollte zu Gunsten der letzteren entschieden werden: Im Januar 1925 wurde Trotzkij auf Betreiben Stalins von Frunze auf dem Posten des Kriegskommissars abgelöst, der nun vergeblich bemüht war, gegen den Widerstand der linken Bolschewiki die Einmannleitung in der militärischen Hierarchie durchzusetzen.
Indes kam es in der zweiten Hälfte der 20er Jahre sowohl zu einer ideologischen als auch materiell-finanziellen Konsolidierung der Roten Armee: Der Anteil der noch in der zaristischen Zeit ausgebildeten Offiziere sank in der Mitte der 20er Jahre auf 15%, der Anteil der Parteimitglieder unter den Offizieren stieg hingegen von 22,5% (1922) auf 47% (1926), wobei er in der Armee insgesamt mit 16% im Jahre 1927 den Anteil der Parteimitglieder an der Gesamtbevölkerung um das 20fache übertraf.
Durch ihre politische Erziehungsfunktion entwickelte sich dїe Rote Armee überdies zu einem systemstabilisierenden und gesellschaftsbildenden Faktor, der die Losung vom "Bündnis der Arbeiter- und Bauernschaft" (smyčka) Realität werden ließ. Das erstarkte Selbstbewußtsein der Armee, ihre Abgrenzung zur Restgesellschaft und die strenge Hierarchisierung nach innen wurden in der Wiedereinführung der Tressen und Schulterstücke symbolträchtig dokumentiert.
Im Zeitraum des 2. Fünfjahrplans (1933 - 1937) wurde dann die technische Ausrüstung der Roten Armee - vor allem mit Panzern, Artillerie, aber auch Flugzeugen - entschieden verbessert und mit der Aufstellung entsprechender Brigaden begonnen.
Die Friedensstärke der Armee verdoppelte sich so bis zum Jahre 1935 auf 1,3 Millionen Soldaten, wobei nun 3/4 aller Dienstpflichtigen permanent unter Waffen standen. Die ab Mai 1937 einsetzende Entmachtung der Spitze der Roten Armee, in deren Verlauf die Hälfte aller Offiziere und Generäle entlassen und zum überwiegenden Teil inhaftiert werden sollte, steht nur scheinbar im Widerspruch zur betriebenen Aufrüstung und Truppenvergrößerung.
Die Entlassungen, Inhaftierungen und Exekutionen, die in erster Linie die höheren und höchsten Offiziersränge betrafen (so auch die prominenten Marschälle Tuchačevskij, Bljucher und Egorov), sollten Stalins Anspruch auf uneingeschränkte Alleinherrschaft auch in der zwar streng bolschewistischen, aber keineswegs uneingeschränkt stalinergebenen Armeeführung durchsetzen.
Daß der "Aderlaß der Roten Armee" (ca. 40.000 repressierte Offiziere) trotz numerischer Überkompensation an Führungskadern erhebliche Verluste an militärischem Wissen und Erfahrung mit sich bringen sollte, wurde spätestens mit dem Überfall Hitlers auf die UdSSR am 22. Juni 1941 deutlich.