1927. Die Tradition der Jahrestage und Jubiläen

Bereits unmittelbar nach der Oktoberumsturz bildete sich in Sowjetrußland eine feste Tradition heraus, revolutionäre Jahrestage und Jubiläen mit großem Aufwand öffentlich zu feiern.
Schon zum ersten Jahrestag des Oktoberumsturzes 1918 wurden Moskau und Petrograd mit avantgardistischen Häuserdekorationen geschmückt, auf denen revolutionäre Symbole, Kampf- und Entscheidungsszenen sowie heroische Arbeiter-, Bauern- und Soldatenfiguren dargestellt wurden. Als unverzichtbares Element der entstehenden sowjetischen Jahrestagskultur kam die Militärparade auf dem Roten Platz hinzu, die von den jeweiligen militärischen und politischen Eliten abgenommen wurde. Als zweiter, wichtiger Feiertag wurde selbstverständlich der Erste Mai begangen.
1920 stellte man mit großem Pathos und hohem organisatorischen Aufwand die Oktoberereignisse noch einmal in Form einer heroischen Massenszene nach, wobei die Inszenierung nur wenig Übereinstimmung mit den historischen Ereignissen aufwies; sie diente vor allem der Schaffung eines revolutionären Mythos, der das mediale und offizielle Bild der Oktoberrevolution selbst zu ersetzen hatte.
Triumphal beging man ebenfalls den 10. Jahrestag der Oktoberrevolution (1927). Ein eigens gegründetes Vorbereitungskomitee plante generalstabsmäßig alle Veranstaltungen, Demonstrationen und Aufmärsche; bis ins Detail wurde die Selbstinszenierung der neuen Sowjetmacht, die sich nach Jahren der Not und des Bürgerkriegs nunmehr konsolidiert hatte, festgelegt. Mit Filmen, wie z.B. "Oktober" von S. Eisenstein und G. Aleksandrov und Plakaten wurde eine medial verbindliche Sichtweise der historischen Ereignisse kreiert.
In den 30er Jahren gerieten die offiziellen Feierlichkeiten immer mehr zu Dankes- und Lobeshymnen auf den Generalsekretär der Partei Stalin; der Kult um seine Person manifestierte sich vor allem auf Demonstrationen und Aufmärschen, die in den 30ern die geeignete massenhaft wirksame Präsentationsform zu bieten schienen. Plakate waren ein obligates Element dieser Selbstdarstellungen. Stalin blickte somit nicht nur vom Leninmausoleum, sondern auch von den unzählig im Demonstrationszug mitgeführten Transparenten und von gloßflächigen Installationen an Häuserwänden auf die Menschen nieder. Der Plakatkünstler Viktor Koreckij machte diese Szene 1950 eigens zum Thema eines Plakats mit dem Titel "Der geliebte Stalin ist das Glück des Volkes".
Auf Sportparaden und Jubelumzügen kam in den 30er Jahren auch die offiziell proklamierte Massenstimmung zum Ausdruck, die ganz im Einklang stand mit der Stalinschen Losung "Das Leben ist besser, das Leben ist fröhlicher geworden". Der inszenierte Optimismus wirkte als Leitorientierung im Massenbewußtsein so überzeugend nach, daß er noch Jahrzehnte danach als wichtiges Merkmal der damaligen Zeit erinnert wurde.
Ab den 50er Jahren wurden Revolutionsjubiläen und staatliche Feiertage mehr und mehr auch zum Anlaß einer militärischen Machtdemonstration ("Kalter Krieg"), die ihren Höhepunkt in den 70er Jahren fand, als Interkontinentalraketen und endlose Panzerkolonnen über den Roten Platz rollten.
In über 70 Jahren Sowjetherrschaft entwickelte sich eine politisch instrumentalisierte Tradition von Feiertagen heraus, die sich, gemessen an der vorrevolutionären religiösen Tradition, insgesamt eher bescheiden ausnahm und nach 1991 auch nahezu vollständig verschwand. Die sowjetische Plakatkultur hat diese Feiertags- und Jubiläumspraxis jedoch maßgeblich beeinflußt, denn gerade dies waren die Anlässe, zu denen Plakate in großen Auflagen produziert und verbreitet wurden.