1927. Das Plakat in der sozialen Praxis der 20er Jahre

In den Jahren des Bürgerkriegs (1918 - 1921) wurde das revolutionäre sowjetische Plakat zu einem der zentralen Bildmedien im Dienst von Agitation und Propaganda. Plakate waren praktisch allgegenwärtig, hingen als regelrechte Bildwände, die an die russische Ikonostase erinnerten, an Zäunen und Häuserwänden und prägten nachhaltig die visuelle Wahrnehmung, wie Zeitzeugen immer wieder anmerkten.
Plakate gehörten außerdem zu den unverzichtbaren Attributen und Ausstattungselementen von Innenräumen, z.B. den sogenannten "Agitationspunkten" und Arbeiterklubs, Schulen und Fabriken, staatlichen Behörden und selbstverständlich Einrichtungen der Kommunistischen Partei.
Plakate dominierten das Straßenbild städtischer Räume nicht nur statisch, sie wurden dort sogar mit Agitationsstraßenbahnen als frühen mobilen Werbeträgern auf dem Stadtgebiet bewegt. Auf den Agitationszügen der sowjetischen Regierung, die ab 1919 die Bürgerkriegsfronten bereisten, gehörten Plakate neben Büchern, Broschüren und anderen Druckerzeugnissen zu den wichtigsten Propaganda- und Informationsmitteln der neuen Zeit. Daß es dabei nicht nur um politische Indoktrination, sondern auch um Gesundheitsvorsorge und Volksaufklärung ging, zeigte das breite Themenspektrum im Plakat, im dem der Kampf gegen Typhus und Cholera, gegen Hunger und Not ebenso Platz hatten wie die genuin politische Agitation für die Grundwerte der Revolution.
Angesicht einer weitgehend bildmedienlosen Zeit besaßen die frühen sowjetischen Plakate einen hohen Aufmerksamkeitswert. Unmittelbar nach dem Aushängen von Plakaten versammelten sich ganze Menschentrauben um die Exponate, insbesondere, wenn es sich dabei um ROSTA-Fenster handelte, die als Bildgeschichte mit begleitendem Text außerordentliches Interesse hervorriefen. Die nebenstehende Abbildung (1920) zeigt eine Personengruppe an der Station Kuban, die drei von dem Agitationszug "Oktoberrevolution" ausgehängte Plakate betrachtet. Die Abbildung vermittelt ein typische Bild der damaligen Rezeptionssituation: dichtgedrängt haben sich vor allem Frauen und Kinder um die Plakate versammelt, um die graphische wie textuelle Information intensiv zu studieren. Die Situation erinnert mehr an eine Lehrveranstaltung, denn an ein schnelles Wahrnehmen der Plakatnachricht. Diesem Rezeptionsverhalten trugen viele sowjetische Plakate Rechnung, besonders diejenigen, die für den ländlichen Raum geschaffen wurden: die textgebundene Nachricht erforderte ein aufmerksames Lesen, das durch eine eindeutige, oft dichotomische Bildnachricht begleitet wurde. Nachhaltigkeit war gefragt, nicht nur schnell einwirkende Impression.
Unmittelbar nach der Oktoberrevolution wurde die Herausgabe von Plakaten direkter staatlicher Kontrolle unterstellt. Zu den wichtigsten staatlichen Instanzen, die Anfang der 20er Jahre Plakate publizierten, gehörten der sowjetische Staatsverlag GIZ, die Verlagsabteilung des Revolutionären Militärrats sowie die Hauptverwaltung für Politische Aufklärung des Volkskomissariats für Bildung (Glavpolitprosvet des Narkompros). Mitte der 20er Jahre vergrößerte sich aufgrund der neuen Wirtschaftspolitik die Anzahl von Verlagen und Einrichtungen, die Plakate herausgaben; dennoch mußte in jedem Fall eine Publikationserlaubnis bei der staatlichen Zensurbehörde Glavlit, bzw. im Staatsverlag GIZ eingeholt werden.
Anfang der 20er Jahre veränderte sich die Bedeutung des Plakats im sozialen und politischen Kontext deutlich. Zum einen wurde die zentral gelenkte politische Agitation, die im Bürgerkrieg noch eine dominante Rolle spielte, stark reduziert und im wesentlichen auf Einzelkampagnen sowie Jahrestage und Revolutionsjubiläen konzentriert. Von besonderer Relevanz waren hier die Kampagnen gegen die Hungersnot 1921, für die Abschaffung des Analphabetentums Mitte der 20er Jahre sowie für den wirtschaftlich-industriellen Wiederaufbau. Eine Reihe von politischen Kampagnen, z.B. gegen die aufkommende Bürokratisierung in Partei und Staat (1920/21) hinterließ in Plakaten ihre Spuren.
Zum anderen bedeutete der Übergang zu "Neuen Ökonomischen Politik", daß die Anzahl von Reklameplakaten und ihre Bedeutung im wirtschaftlichen Leben des Landes deutlich zunahm. Werbeplakate, wie z.B. die durch Majakovskij und Rodčenko erstellten Serien für die Handelsgenossenschaft Mossel'prom, bei denen es nicht nur um direkte Produktwerbung, sondern auch um Propaganda für den staatlichen Sektor in Konkurrenz zur wiedererstarkten Privatwirtschaft ging, prägten Mitte der 20er Jahre das Stadtbild.
Auch großflächige Filmwerbung (Stenberg, Prusakov) kam als neues Genre hinzu. In konstruktivistischem Stil und für die damalige Zeit recht unkonventionellen graphischen Design-Entwürfen warben die Plakate für den eigenen, sowjetischen Film, aber auch für ausländische Produktionen. Das Filmplakat wurde damit zum kreativen Trendsetter in der Plakatkunst, vor dessen Hintergrund sich das politische Plakat eher bescheiden ausnahm.
Plakate gehörten damit zu den wichtigsten Bausteinen der entstehenden visuellen Massenkultur in der Sowjetunion, an dem das politische Plakat ebenso wie Reklame- und Filmplakate in den 20er Jahren beteiligt waren.