1921. Russische Emigration der frühen 20. Jahre

Nach der Machtergreifung der Bolschewiki setzte die erste große Emigrationswelle ein, die zwischen 1919 und 1921 ihren Höhepunkt erreichte. Unter den Emigranten, die zumeist nach Mittel- und Westeuropa (Berlin, Prag, Paris) sowie nach China, später auch in die USA flüchteten, befanden sich neben Angehörigen des Adels auch ehemalige Offiziere der früheren zaristischen Armee, zahlreiche Künstler, Schriftsteller, Musiker, Wissenschaftler und Politiker, die sich mit der Ideologie der neuen Machthaber nicht identifizieren konnten.
Repräsentanten der vorrevolutionären Intelligencija, die sich der Emigrationswelle nicht angeschlossen hatten und dennoch von den Grundsätzen der Bolschewiki abrückten, wurden zunehmend diskriminiert und verfolgt. Nur wenige - unter ihnen der Schriftsteller Maksim Gorkij und der Physiker P. Kapica - paßten sich den Vorgaben des Regimes an. Einige Emigranten, wie z. B. die Lyrikerin Marina Cvetaeva, kehrten in den 30er Jahren von Heimweh und Enttäuschung getrieben in die Sowjetunion zurück, wo man ihnen jedoch mit Mißtrauen begegnete. Die meisten der Heimkehrer verschwanden in den Folgejahren im GULAG.
Mit der russischen Emigration der frühen 20er Jahre, man spricht auch von "Emigranten der ersten Generation", verlor das Land große Teile seiner intellektuellen Elite: ein Aderlaß an Wissen und Kompetenz, der sich außerordentlich negativ vor allem auf die Realisierung der proklamierten wirtschaftlichen Entwicklungsziele auswirkte. In den 20er Jahren wurden daher auch bürgerliche Wissenschaftler und Ingenieure in der Industrie eingesetzt, obwohl man diesen bis zum Schluß skeptisch gegenüberstand.
Hinzu kam ein Bruch in der kulturellen Traditionsbildung: die alte, in der Regel liberal geprägte geistige Elite des Landes verkörperte die aufklärerischen Ideale des 19. Jahrhunderts und repräsentierte die Verbindungslinie zum Erbe der klassischen russischen Kultur, die mit der Emigration für die Gesellschaft in der Sowjetunion weitgehend verloren ging. Dieser Verlust an kultureller Erinnerung wurde von der Partei zugleich gewollt, denn vorrangiges Ziel sowjetischer Bildungspolitik war es, einen neuen sozialistischen Menschen zu formen, der sich - frei von Skrupeln eines humanistischen Erbes - bedingungslos der Partei und ihrer Moral unterordnete.
Der industrielle Aufbruch der 30er Jahre mußte sich daher auf eine neue, bereits sowjetische Elite gründen, die in den 20er Jahren intensiv entwickelt wurde. Ausgebildet wurden die neuen Kader an sogenannten Arbeiterfakultäten.