1900. Die soziale Lage auf dem Land Anfang des 20. Jahrhunderts

Die ab 1906 begonnene Agrarreform Stolypins hatte das politische Ziel verfolgt, eine unabhängige und begüterte Bauernschaft heranzubilden; die Not der besitzlosen Bauern hatte sie jedoch nur bedingt lindern können.
Trotz guter Ernten verschlechterte sich die Lage gerade der armen Bauern seit Beginn des Jahrhunderts. Etwa 60 % der aus dem Mir-Verband (Landgemeinde) ausgeschiedenen Bauern mußten ihre Kleinstäcker nach und nach verkaufen und als Tagelöhner in die städtische Industrie umsiedeln. Dort verbesserte sich ihre soziale Lage jedoch kaum, da die Löhne wegen eines Überangebots an Arbeitskräften extrem niedrig gehalten werden konnten. Da gleichzeitig die Zahl der begüterten Bauern (Kulaken) zunahm, wurde die Bauernschaft sozial gespalten.
Die so erreichte Befriedung der Bauern erwies sich vorübergehend als Stütze eines vermeintlichen sozialen Friedens; die positive Entwicklung auf dem Agrarsektor bewirkte schließlich, daß es in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg seltener zu Unruhen auf dem Land kam. Die Lage der Bauern blieb aber weiterhin kritisch: viele arme Bauernfamilien, und gerade sie bildeten die absolute Mehrheit der russischen Bauernschaft, litten an den finanziellen Folgen, die sich in den Jahrzehnten nach der Bauernbefreiung (1861) in Gestalt von Zins- und Pachtzahlungen akkumuliert hatten. Außerdem war die Frage einer Land- und Bodenreform nach wie vor ungelöst. Gerade sie sollte im Hinblick auf die Oktoberrevolution erhebliches politisches Gewicht erhalten.